H. Zumbühl u.a. (Hrsg.): Die Grindelwaldgletscher

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Titel
.): Die Grindelwaldgletscher. Kunst und Wissenschaft


Herausgeber
Zumbühl, Heinz J.; Nussbaumer, Samuel U.; Holzhauser, Heinz J. Hanspeter; Wolf, Richard
Erschienen
Bern 2016: Haupt Verlag
Anzahl Seiten
255 S.
von
Christoph Zürcher

1980 publizierte Heinz J. Zumbühl seine Dissertation Die Schwankungen der Grindelwaldgletscher in den historischen Bild- und Schriftquellen des 12. bis 19. Jahrhunderts. Erstmals wurden hier die naturwissenschaftlichen Methoden der Gletscherforschung (Geomorphologie, Pedologie, Paläobotanik, 14-C-Altersbestimmung) kombiniert mit historischen und kunstgeschichtlichen Methoden. Neben vielen Schriftquellen wurden rund 500 Bildquellen von über 200 Künstlern ausgewertet, was zusammen mit den naturwissenschaftlichen Methoden eine präzise Rekonstruktion der Geschichte der beiden Gletscher während der sogenannten «Kleinen Eiszeit» zwischen 1250 und 1860 erlaubte. Der schöne Band ist längst vergriffen.

Nun hat Zumbühl, sozusagen als Ersatz für das Werk von 1980, mit einem ganzen Team von Fachleuten seine Geschichte der Grindelwaldgletscher überarbeitet. Schlichtweg grossartig! Der Verlag Haupt hat für diesen reich illustrierten Grossband alles aufgewendet, was an moderner Druckkunst und Buchgestaltung zu haben ist. Die gestochen scharfen Bildreproduktionen und Fotografien machen ebenso Freude wie das äusserst gelungene Layout und die Wahl der Schriften und Schriftgrössen. Weitere Qualitäten des Werkes: gut gestaltete grafische Darstellungen und Tabellen und durchwegs eine Sprachkultur, die heute nicht mehr selbstverständlich ist. Schwierige Tatbestände werden so dargestellt, dass sie auch für interessierte Laien verständlich sind. Wer mehr wissen will: Das Literaturverzeichnis umfasst schätzungsweise 400 Titel, und rund 40 Bibliotheken und Museen haben Bildmaterial geliefert.

Der neue Band dokumentiert eindrücklich, was interdisziplinäre Zusammenarbeit leisten kann. Das ist das Verdienst der vier Herausgeber. Es werden mit ihnen 19 Beteiligte als Autoren und Mitarbeiter aufgelistet. Der Band zeigt die Fortschritte der Gletscherforschung in den letzten 35 Jahren: neue Untersuchungsmethoden (etwa Radar zur Messung der Gletschermächtigkeit, computergenerierte 3-D-Gletschermodelle, Dendrochronologie, Drohnen, Beiträge der Höhlenforschung zur Gletschergeschichte) kommen zum Einsatz. Ganz wichtig: Die Weiterführung der Grindelwaldner Gletschergeschichte in die unmittelbare Gegenwart. Die «Kleine Eiszeit» ist zu Ende, wir sind in eine Warmphase eingetreten, die beiden beobachteten Gletscher zerfallen in rasantem Tempo. Das wird im vorliegenden Band exemplarisch dokumentiert und damit wird die Geschichte der Grindelwaldgletscher eingebettet in das grosse Thema des weltweiten Klimawandels.

Das Vorwort von Heinz Wanner sollte man bei der Lektüre nicht überspringen. Es ist die kürzestmögliche Zusammenfassung der Klimageschichte der Nacheiszeit (Holozän) seit 12 000 vor Chr. Dann folgt als erstes Kapitel eine Einführung ins Thema von Hanspeter Holzhauser, Samuel U. Nussbaumer und Heinz Zumbühl. Hier muss ein kleines Fragezeichen zum Blockdiagramm auf Seite 43 angebracht werden. In der Legende befinden sich nebeneinander die Bezeichnungen «Gebirgsgletscher» und «Hängegletscher», was keinen Sinn ergibt. Auch bei der Erklärung der glazialen Tiefenerosion wäre Vorsicht am Platz gewesen. Die These von Penck und Brückner, wonach die Gletscher in den frühsten Eiszeiten die erstaunlich tiefen Täler durch Tiefenerosion selbst geschaffen («ausgehobelt») und sogar «übertieft» hätten, war immer umstritten.1

Im Zentrum der Publikation stehen die Kapitel 2 und 3 von Heinz Zumbühl: die Geschichte der beiden Grindelwaldgletscher seit dem 12./13. Jahrhundert. Hier treffen wir auf die Gletscherdarstellungen von Albert Kauw, Joseph Plepp, Samuel Bodmer, Johann Ludwig Aberli, Gabriel Ludwig Lory (Vater), Samuel Birmann und vielen anderen, die Zumbühl meisterlich interpretiert. Ganz oben steht Caspar Wolf, dessen Werkverzeichnis Zumbühl in den 1970er-Jahren entdeckte und ihn damit eigentlich bekannt machte. Spannend auch das Kapitel 4 Gletscher in der Wahrnehmung der Menschen von Zumbühl, Richard Wolf und Rémi Fontaine. Die letzteren beiden sind ausgewiesenen Kenner der Schweizer Fotografiegeschichte und Sammler von Gletscherfotografien. Gletscher übten immer eine grosse Faszination auf ihre Betrachter aus. In der frühen Neuzeit wurden vorstossende Eismassen als unheimliche Bedrohung wahrgenommen. In der Hochblüte des Tourismus gehörten sie zum «Spielplatz Europas» für Touristen. Die Interaktionen Mensch – Gletscher werden mit ausgewählten Bildzeugnissen (aus der Zeit von 1750 bis 1950) dargestellt und sensibel kommentiert.

Was alte Bäume aus den Ufermoränen oder alpine Tropfsteine zu Gletschergeschichte erzählen, stellen Hanspeter Holzhauser, Marc Luetscher und Arniko Böke in zwei weiteren Kapiteln vor.

Ein weiteres Kapitel (Martin Funk, Nils Hählen, Hans Rudolf Keusen, Hans Kienholz und Daniel Tobler) befasst sich mit dem heutigen und zukünftigen Naturgefahrenpotenzial der beiden Gletscher (Felsstürze, Murgänge, Gletscherseen) und macht damit die Herausforderungen deutlich, die sich aus dem Klimawandel mit dem absehbaren Verschwinden der beiden Gletscher ergeben.

Logischerweise schliesst das Werk mit einem Kapitel Gletscherentwicklung und Klimawandel – Von der Vergangenheit in die Zukunft, verfasst von Samuel U. Nussbaumer, Matthias Huss, Horst Machguth und Daniel Steiner. Am Schluss stehen zwei grossformatige Bildpaare. Sie zeigen den Unteren Grindelwaldgletscher in Fotografien um 1860 in Gegenüberstellung zu Aufnahmen Nussbaumers von 2013, vom gleichen Standort aus. Sie stimmen traurig, weil auf brutale Weise evident wird, dass wir definitiv Abschied nehmen müssen vom Bild der gleissenden Firnen, das unsere Idealvorstellung von den Alpen seit Albrecht von Haller geprägt hat.

Fazit: lesens- und sehenswert von der ersten bis zur letzten Seite.

1 Penck, Albrecht; Brückner, Eduard: Die Alpen im Eiszeitalter. Leipzig 1909.

Zitierweise:
Christoph Zürcher: Rezension zu: Zumbühl, Heinz J.; Nussbaumer, Samuel U.; Holzhauser, Heinz J. Hanspeter; Wolf, Richard (Hrsg.): Die Grindelwaldgletscher. Kunst und Wissenschaft. Bern: Haupt 2016. Zuerst erschienen in: Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 79 Nr. 2, 2017, S. 98-100.

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Zuerst veröffentlicht in

Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 79 Nr. 2, 2017, S. 98-100.

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